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Erste Liebe

Als Günther Rücker im Jahr 2004 achtzig Jahre alt wurde, bedauerten die den Jubilar würdigenden Zeitungs-Schreiber einmütig und heftig seinen Entschluß, nichts mehr schreiben zu wollen. Rückers Texte – Hörspiele, Drehbücher, Erzählungen und Essays – waren etwas Besonderes: Immer fand er den Punkt, mit einer klassischen Ausgangsposition in die Räume des Geschehens zu führen; ungewöhnliche/gewöhnliche Schicksale waren sein Markenzeichen; geschrieben in einer Sprache, die genauso breit und sinnlich einzelne Momente ausmalen konnte, wie sie es verstand, Ereignisse von Jahrzehnten in eine kurze Passage zu binden. Beharrlich behauptete der Autor, daß es wirkliche Begebenheiten und Schicksale seien, die ihm dank seiner Neugier auf Menschen förmlich zugeflogen seien, er habe sie nur aufgeschrieben. Und Authentisches kommt nun mal ohne Historie nicht aus, was den Geschichtskenner Rücker zu Texten mit eigner »Hausmarke« veranlaßte. »Denn er konnte so schön schöne Geschichten erzählen, besonders solche aus der Geschichte«, heißt es in der »Böhmischen Geschichte« über Gottfried Procházka, und mir schien es bei der Lektüre, der Autor deutet damit auch auf seine besonderen Fähigkeiten und umhüllt das mit einem Gran Selbstironie und Melancholie. Nun gibt es also neue, noch in keinem Buch gesammelte Erzählungen, und Edition Schwarzdruck ist glücklich, sie publizieren zu dürfen. Günther Rücker – von Krankheit und Alter gezeichnet – lebt seit einigen Jahren in Meiningen, blickt aus den Fenstern seiner Wohnung auf die Berge und Hügelketten des Thüringer Waldes, die der böhmischen Landschaft seiner Kindheit ähneln. »Bringt es das Alter mit sich, daß man nicht enden kann in den Erinnerungen? … Ist es Altern allein, das hier wirkt und zum Ende noch einmal Glanz sucht in den Trümmern und den Steinbrüchen des Lebens?« schrieb der Sechzigjährige 1984, gerade mit »Hilde, das Dienstmädchen« beschäftigt. Damals sagte er auch, daß »jede andere Arbeit erst freigegeben wird von der Zensur des Lebens, wenn Einverständnis hergestellt ist in den Gemütswinkeln und den Vernunftskorridoren«, was keine nur allgemeine Übereinstimmung meinte zwischen seinen Intentionen und dem Lauf der Welt, die damals noch mit der Hoffnung auf eine sozialistische Zukunft verbunden war. Dafür hatten sein Vater und dessen Genossen gelebt und gearbeitet. Sie haben gestritten und viel gelesen, gesungen und getanzt, Sport getrieben, waren wandern und halfen einander. Verwurzelt in der Arbeiterbewegung, schufen und lebten sie eigene Werte, eine eigene Kultur und Moral. Für viele von ihnen war es selbstverständlich, Hitler Widerstand zu leisten. Der Schriftsteller und Regisseur Günther Rücker erinnerte mit seinen Arbeiten auch an diese Tradition. Er schildert die Lebenswege kleiner und großer Helden des antifaschistischen Widerstands und erzählt von den den Zwängen und Zufällen des 20. Jahrhunderts ausgelieferten Schicksalen. Oft waren Lager und Gefängnisse Stationen dieser Wege, es gab Solidarität und Verrat, Glück und Unglück, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft half zu überleben. Und diese Erfahrung soll mit dem Zusammenbruch sozialistischer Experimente ausgelöscht, diffamiert, gänzlich unerwähnt sein? Günther Rücker traf 1989 der Rückschlag hart. Hatte er nicht gerade in seinem Film »Hilde, das Dienstmädchen« gezeigt, wie rasch sich Massen manipulieren ließen, wie schwer es war, dem Trend zu widerstehen. Er hatte genug Erfahrung und Phantasie, um zu wissen, was kommen würde, und er verstummte. Bis seine Empörung über wiederholt auftretenden Fremdenhaß und unverblümte Rückgabe-Ansprüche ehemals heimatlicher Gebiete ihm die Stimme zurückgab. Rücker schreibt wieder und wie immer erzählt er Jahrhunderterfahrung und zieht alle Register: Mal wütend überschäumend, mal gelassen und mit dem feinen Humor des Weisen. Wieder fand er Zeitzeugen, deren Leben Normales und Kurioses, Unwahrscheinliches und Allzumenschliches vereint: einen deutschen Kriegsgefangenen, der in Auschwitz dank des Brotes früherer jüdischer Häftlinge am Leben blieb. Die Erbin eines großen Hotels, die nie in den Besitz des Erbes kam. Und zwei erste Lieben. Die eine wird zerstört von den Vorurteilen und der Grausamkeit scheinbar ganz normaler heutiger Zeitgenossen. Die andere hält ein Leben lang, auch wenn Schicksale und Ansichten der Liebenden höchst unterschiedlich verliefen. Christel Berger